Enttäuschung ist eines dieser Gefühle, das wir alle kennen – und doch versuchen viele von uns, es um jeden Preis zu vermeiden. Vor allem, wenn wir diejenigen sind, die sie auslösen könnten. Aber warum eigentlich? Und was passiert da genau, wenn wir enttäuschen – oder enttäuscht werden?
Was bedeutet überhaupt Enttäuschung?
Das Wort Enttäuschung klingt hart – und fühlt sich oft auch so an. Doch wenn man es sich einmal genau anschaut, steckt darin etwas Befreiendes: eine Täuschung wird ent-täuscht. Eine Erwartung, ein Bild, eine Vorstellung, die jemand (oder man selbst) von etwas hatte, wird aufgelöst. Enttäuschung ist damit nicht das eigentliche Problem – sie ist das Ende einer Illusion.
Das macht sie schmerzhaft, ja. Denn Illusionen fühlen sich manchmal besser an als Wahrheiten. Aber letztlich ist Enttäuschung auch eine Form von Klarheit.
Warum haben wir solche Angst davor, zu enttäuschen?
Viele von uns haben nicht nur Angst davor, enttäuscht zu werden, sondern vor allem davor, andere zu enttäuschen. Vielleicht kennst du diesen Satz in deinem Kopf:
„Ich kann das nicht absagen – ich will sie/ihn nicht enttäuschen.“
Oder: „Ich will niemandem zur Last fallen.“
Oder: „Ich will nicht, dass sie schlecht von mir denken.“
Oft geht es gar nicht darum, dass wir selbst mit einer Enttäuschung hadern – sondern darum, wie sie bei anderen ankommt.
Und genau da wird’s spannend. Denn diese Angst, andere zu enttäuschen, hat oft viel mit unserer Prägung zu tun: Vielleicht hast du früh gelernt, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Dass man brav, stark, hilfsbereit oder „unkompliziert“ sein muss, um gemocht zu werden. Vielleicht wurdest du für deine Anpassung gelobt – und für deine eigenen Bedürfnisse beschimpft. Vielleicht hast du früh verstanden, dass es sicherer ist, Erwartungen zu erfüllen, als Nein zu sagen.
Enttäuschen heißt nicht, dass du ein schlechter Mensch bist.
Stell dir vor, du bekommst eine Einladung zu einer Hochzeit. Es wäre schön dabei zu sein, aber innerlich spürst du: Ich kann gerade nicht. Es würde mich überfordern.
Du schiebst die Antwort hinaus. Du überlegst, was du sagen könntest. Du denkst an das Brautpaar, das Geld, das sie für dich investieren. An die Plätze. An die Vorfreude. Und du merkst: Nicht das Absagen ist schwer. Sondern die Angst, jemanden zu enttäuschen.
Aber was passiert in Wahrheit?
Du löst Erwartungen auf, die jemand an dich hatte – ohne etwas Böses zu tun. Du setzt deine Grenze. Du bist ehrlich. Und du gibst der anderen Person die Möglichkeit, dich wahrhaftig zu sehen – nicht nur das Bild, das sie von dir hat.
Wenn jemand von dir enttäuscht ist, fühlt sich das schnell wie ein persönliches Versagen an. Fast so, als hättest du eine Aufgabe nicht erfüllt.
Viele Enttäuschungen entstehen nicht durch das, was wir tatsächlich getan oder nicht getan haben – sondern durch das Bild, das sich jemand im Kopf von uns gemacht hat. Eine stille Vorstellung davon, wie wir sein sollten, was wir sagen oder entscheiden müssten. Oft wissen wir gar nichts davon – und doch wird uns die Enttäuschung übergestülpt, als hätten wir einen Vertrag gebrochen, den wir nie unterschrieben haben.
Du darfst enttäuschen – um dich selbst nicht zu verraten
Denn was ist die Alternative?
Dich zu verbiegen. Hinzugehen, obwohl du nicht willst. Dich selbst zu übergehen, nur um einem Bild zu entsprechen. Doch wenn du dich ständig an Erwartungen orientiert, statt an deinem Gefühl, dann enttäuschst du am Ende vor allem eine Person: dich selbst.
Es ist okay, Erwartungen nicht zu erfüllen. Es ist okay, nicht zu gefallen. Es ist okay, Nein zu sagen.
Erwartungen sind nicht grundsätzlich schlecht. Sie geben uns Orientierung, machen Beziehungen verlässlich, schaffen Klarheit im Alltag. Ohne Erwartungen würde vieles ins Beliebige kippen – alles wäre gleichgültig. Wir brauchen Erwartungen, gerade in Zusammenarbeit, in Beziehungen, im Miteinander.
Doch entscheidend ist die Kommunikation darüber.
Ein Beispiel: Wenn dein*e Chef*in von dir enttäuscht ist, weil du bei einem Projekt nicht „genug Einsatz“ gezeigt hast – aber nie klar wurde, was genau mit „genug“ gemeint war – dann ist das keine bewusste Grenzüberschreitung deinerseits. Dann handelst es sich um eine Enttäuschung, die aus einem unausgesprochenen Bild entstanden ist. Ein Bild, das du gar nicht kennen konntest.
Man kann nur dann Erwartungen erfüllen oder bewusst enttäuschen, wenn sie auch klar kommuniziert wurden. Deswegen ist es so wichtig seine eigenen Werte und Grenzen zu kennen, damit du sie nach außen tragen kannst. Das tägliche Journaling kann dir dabei eine Hilfe sein, herauszufinden welche Erwartungen du zum Beispiel an dein Umfeld hast.
Enttäuschung sollte nicht das Ergebnis stiller Gedanken sein, die man über jemanden hatte, ohne sie zu teilen. Wenn jemand enttäuscht von dir ist, kann das mehr über dessen innere Welt sagen als über dein Verhalten. Und das entbindet dich nicht von Verantwortung – aber es zeigt, dass Enttäuschung nicht automatisch Schuld bedeutet.
So unangenehm sie auch sind: Enttäuschungen zeigen uns, woran wir wirklich sind. Sie decken auf, welches Bild jemand von uns hatte – und geben und die Chance, ehrlich zu sagen, ob wir diesem Bild überhaupt entsprechen wollen oder können.
Denn wenn wir versuchen einem Bild gerecht zu werden, das wir nicht selbst gezeichnet haben, verlieren wir uns irgendwann selbst. Habe den Mut, Enttäuschungen auszuhalten, damit du dich selbst wirklich zeigen kannst. Am Ende entstehen echte Verbindungen nur da, wo beide Seiten sich sehen – nicht, wie sie sich gegenseitig erträumen.